Verhalten

Angst zieht Kreise …

Es ist Anfang Dezember – die Silvesternacht naht mit großen Schritten. Für viele Katzen ist die Zeit um den Jahreswechsel – jedes Jahr aufs Neue – eine große Herausforderung. Die Geräusche und anderen Reize, mit denen unsere Katzen an diesen Tagen konfrontiert werden, haben durch ihre Beschaffenheit ein extrem hohes Potential, unsere Tiere zu erschrecken und zu ängstigen:

  • die Geräusche sind laut,
  • wiederholen sich unkontrolliert
  • und treten doch bei jedem Knall plötzlich auf.

All das sind Eigenschaften, die das Katzengehirn von Natur aus auf eine Gefahr hinweisen – übrigens nicht nur Katzen, sondern auch andere Tiere und uns Menschen.

Die Evolution hat dem Säugetiergehirn bestimmte, besonders überlebenswichtige Informationen tief eingebrannt. Dazu gehören u. a. Reaktionen auf Geräusche, die potentielle Gefahren ankündigen (z. B. Knallgeräusche oder Zischen): Das Gehirn weiß sofort, wie es darauf reagieren muss, ohne dem Geräusch jemals begegnet zu sein. Das ist auch der Grund, warum sich so viele Katzen an Silvester verkriechen, obwohl sie ja drinnen eigentlich in Sicherheit sind. Das Gehirn weiß aber nicht, dass es in Sicherheit ist, denn ihm passiert ja etwas: es erschreckt und ist einer potentiellen Gefahr ausgesetzt. Dadurch gerät es immer mehr in Stress! Die Reaktion des Katzenkörpers entspricht der bei einer „echten“ Bedrohung von Leib und Leben. Der Katzengehirn reagiert blitzschnell auf die (vermeintliche) Gefahr und versetzt den Körper in einen akut gestressten Zustand – das ist von der Natur so vorgesehen und in anderen Situationen überlebenswichtig. Denn erst so wird die Katze in die Lage versetzt, adäquat auf eine Bedrohung zu reagieren: sie wird wachsamer, Kräfte und Energien werden mobilisiert. Was das ganze so schwierig für unsere Katzen macht ist, dass ihnen ganz oft echte Bewältigungsstrategien fehlen, um das Erschrecken und die ggf. aufkommende Panik durch Flucht oder Verstecken abzumildern, denn die Geräusche sind überall und dauern an. Das bedeutet extremen Stress für die Katze: egal was sie tut, es wird nicht besser (oder leiser) – und sie weiß nicht, wie lange dieser Zustand andauern wird. Diese Ungewissheit treibt die Angstspirale zusätzlich an.

Und mit jedem Knall und der fehlenden Erholungszeit bis zum nächsten Knall gerät die Katze in eine Spirale der Angst, aus der sie ohne unsere Hilfe nicht – oder zumindest nicht schnell genug – heraus kommt.

Um nun besser zu verstehen, was dieser Zustand der Angst mit unseren Katzen macht und wie er entsteht, schauen wir uns einmal an, wie Angst entsteht.

Wie aus Furcht Angst wird und was klassische Konditionierung damit zu tun hat

Jede Katze wird im Laufe ihres Lebens mit dem Gefühl von Angst konfrontiert – die eine mehr, die andere weniger. Je nachdem, wie die Katze so tickt, bewertet sie das Glas als halb voll oder als halb leer.

Katzen, die potenziell eher etwas unangenehmes vom Leben erwarten, sind besonders davon betroffen, wenn es viele Angstauslöser in ihrem Leben gibt, für die sie keine Bewältigungsstrategien kennen. Aber auch jene Katzen, die tendenziell den Glauben an das Gute in der Welt behalten und eher freudig und offen in Situationen gehen, brauchen Strategien, um mit ihren Ängsten umzugehen und sie zu bewältigen, denn sonst kann es passieren, dass auch sie das Glas eher als halb leer betrachten.

Um den Katzen zu helfen, ist es zunächst einmal wichtig zu verstehen, wie es dazu kommt, dass manche Katzen von Mal zu Mal immer ängstlicher werden und wie sich Angst ausbreitet.

Gutes Bekommen – Schlechtes Vermeiden

Das Leben eines jeden Lebewesens wird dadurch bestimmt, für sich aus jeder Situation das bestmögliche Ergebnis heraus zu holen. Das bedeutet, am Ende des Tages versucht jedes Lebewesen, „Gutes zu bekommen und Schlechtes zu vermeiden“. Dabei müssen wir Menschen uns immer wieder verdeutlichen: Die Bewertung, was „gut“ und was „schlecht“ ist, gibt dabei jedes Lebewesen selbst ab. Oder besser gesagt: die Bewertung entsteht im Gehirn des individuellen Lebewesens. Für die Praxis heißt das: Etwas gut Gemeintes kommt nicht immer auch so an. Entscheidend ist nicht unsere Intention, sondern wie die Belohnung bei der Katze ankommt. Der Grund hierfür sind u. a. Lernerfahrungen und – die klassische Konditionierung.

Klassische Konditionierung kurz & knapp

Die klassische Konditionierung (k. K.) nach Ivan Pavlov (russischer Physiologe und Mediziner, Nobelpreisgewinner 1904) ist ein recht sperriger Begriff, der uns früher oder später begegnet, wenn wir uns mit Katzenerziehung und Lernen auseinandersetzen. Für uns reicht es aber erst einmal zu wissen, dass die k. K. eine Lernform ist, die unbewusst abläuft, die Einfluss auf Bewertungen und damit Gefühle hat und zwei Ereignisse (eins ist unbedeutend, das andere bedeutsam) miteinander verknüpft, und so Reizen und Ereignissen eine Vorhersagekraft verleiht: die k. K. sorgt dafür, dass das Katzengehirn verknüpfen kann, dass z. B. das Knistern der Leckerlietüte ankündigt, dass es gleich Leckerchen regnet.

Das Gehirn der Katze kann dank der klassischen Konditionierung anhand bereits erlernter oder angeborener “Vorhersager” frühzeitig angenehme oder unangenehme Ereignisse vorausahnen und passende Verhaltensreaktionen starten. Diese Verhaltensreaktionen sorgen dafür, dass die Katze am Ende das erreichen kann, was ihr beim Überleben hilft: Gutes zu bekommen bzw. Schlechtes zu vermeiden.

Beim Erlernen dieser Verknüpfungen via k. K. gibt es jedoch ein Problem:
Welchen bedeutungslosen Reiz oder welches bisher bedeutungslose Ereignis das Katzengehirn in einer Situation mit welchem bedeutungsvollen Reiz oder Ereignis verknüpft, lässt sich nicht zu 100% vorhersagen. Erst im Nachhinein wird dies deutlich, wenn die Katze z. B. unerwartet ängstlich auf etwas reagiert, auf das sie bisher nicht oder eher unaufgeregt reagiert hat. Zum Beispiel kann es passieren, dass die Katze plötzlich nicht mehr in die Küche geht, weil sie sich dort erschrocken hat, als ein Topfdeckel herunterfiel. Sie kann aber auch etwas anderes als den Ort mit dem Schreck verknüpfen: anwesende Personen oder Katzen, die Tageszeit, Gerüche, ja sogar den Untergrund, auf dem sie sich befand.

Für unseren Alltag mit Katze bedeutet das: Wenn unsere Katzen in einer Situation Angst haben, kann alles, was sie in oder kurz vor der Situation wahrnehmen, mit dem emotionalen Zustand „Angst“ verknüpft und selbst zum Angstauslöser werden.

Das Gleiche gilt leider auch für Strafmaßnahmen: Alles, was eine Katze wahrnimmt, während sie z. B. mit der Blumenspritze geduscht oder auch wenn sie z. B. beim Tierarzt festgehalten wird, kann das als neuer Angstauslöser verknüpft werden. Das meinen wir, wenn wir sagen „Angst zieht Kreise“, denn der ursprüngliche Auslöser wird durch etwas angekündigt, was dann ebenfalls zum Auslöser werden kann. Das gilt leider auch für Reize, die dem Angstauslöser nicht gleichen, aber ihm ähneln.

Reize, die in einer Situation verknüpft werden können, sind u. a.:
• der Ort des Geschehens
• Geräusche aller Art
• anwesende Lebewesen (z. B. andere Katzen oder Menschen)
• Bewegungen von anwesenden Lebewesen
• anwesende Objekte
• Gerüche aller Art
• Empfindungen und Berührungen an der Körperoberfläche (z. B. Festgehalten werden, eine bestimmte Stelle streicheln)
• Tageszeiten/ Zeiträume
• Hell / Dunkel

Hier sehen wir ein Beispiel für eine Furcht (Furcht = konkrete Angst, z. B. vor Donner), die Kreise zieht und sich immer mehr ausbreitet: Zuerst erschreckt sich die Katze z. B. vor einem besonders lauten Donnerschlag. Beim nächsten Gewitter hat sie vielleicht schon Angst vor dem Regen, da dieser den Donner begleitet hat und dann wieder begleitet. Wenn die Katze nun nichts tun kann, damit sie sich wieder besser fühlt, wird sie beim nächsten Mal vielleicht schon auf den Wind reagieren, der vor einem Gewitter in der Regel stärker wird. Und so geht es weiter: Luftdruckveränderungen kündigen den Wind an, der den Regen ankündigt, der den Donner vorhersagt. Möglicherweise werden auch Reize zu neuen Auslösern, die den bisherigen Auslösern nur ähneln, sie aber nicht ankündigen.Neu erlernte Auslöser, die durch eine Verknüpfung via klassischer Konditionierung mit unangenehmen Emotionen verknüpft wurden, sind besonders hartnäckig und schwer zu bearbeiten, denn sie lassen den bewusst denkenden Teil des Gehirns komplett außen vor: Das Gehirn reagiert einfach, ohne nachzudenken.

Daher ist das Wissen um die klassische Konditionierung so wichtig, denn es gilt, so wenige unangenehme Situationen wie möglich entstehen zu lassen, in denen das Katzengehirn die Gelegenheit bekommt, neue Furcht-, Angst- oder Aggressions-Auslöser dazu zu lernen. Besondere Achtsamkeit ist bei Reizen geboten, deren Bedeutung von der Katze nicht gelernt werden muss, um zu funktionieren. Bei dieser Art von Auslösern handelt es sich um sog. angeborene Auslöser, die bei jeder Katze eine Schreckreaktion oder das Gefühl von Angst auslösen, egal ob sie damit schon Erfahrungen gesammelt hat oder nicht: Die Evolution hat diese Informationen tief ins Katzengehirn eingebrannt, weil sie so wichtig sind und im Zweifelsfalle das Überleben sichern. Dazu gehören z. B. alle unbekannten, plötzlichen, lauten oder zischenden Geräusche. Auch plötzliche Berührungen und alles „was von oben kommt“ gehört dazu. Besonders relevant sind allgemein Reize, die sehr plötzlich und sehr nah bei der Katze auftreten.

Die Lösung: “Ein dickeres Fell” und Bewältigungsstrategien

Wenn wir diese Kreise ziehenden Ängste und die damit verbundenen Lernabläufe nicht unterbrechen und der Katze die Gelegenheit geben, eine Bewältigungsstrategie zu erlernen, wird die Angst von Jahr zu Jahr schlimmer, dauert länger an und geht ggf. immer früher los.

Hat die Katze aber eine Strategie, um sich in dieser Situation wenigstens etwas besser zu fühlen, z. B. indem sie in ihre Sicherheitszone geht oder sich an ihre Bezugsperson wenden kann, um ein wenig zu clickern, zu kuscheln oder zu spielen, kann sie diese Situation besser bewältigen. Darum sollten (spätestens) in Vorbereitung auf Silvester  vorhandene Bewältigungsstrategien aufgefrischt werden und wenn es bisher keine solchen Strategien gibt, ist jetzt die beste Zeit, die Katze damit bekannt zu machen.

Diese Art der Stressbewältigung ist essentiell: Ein Stressor wird nämlich als weitaus weniger schlimm bewertet, wenn das Gehirn weiß, dass es eine Strategie hat, mit dem Stressor umzugehen, wenn es also eine Bewältigungsstrategie hat!

Das sind u. a. die Dinge, die unsere Katzen robuster und widerstandsfähiger machen: Das Wissen darum, eine oder mehrere Strategien zu haben, um sich in dieser oder jener Situation besser zu fühlen. Dazu gehören nicht nur spezielle Strategien für Situationen wie Silvester, sondern auch die kleinen Dinge des Alltags: Je besser das emotionale Polster einer Katze ist, desto konstruktiver kann sie mit Ausnahmesituationen umgehen.

by Anne-Katrin Mausolf